Ich bin nicht auf der Welt fremde Erwartungen zu erfüllen
Fremde Erwartungen können zu großer Belastung führen
Respektvolle Kommunikation vs. Sprachgewalt
„Worte sind nie neutral. Sie erzeugen Wirklichkeiten.“
— Michel Foucault (in Anlehnung an seine Diskurstheorie)
„Legasthenie“ – ein scheinbar harmloses Wort.
Ein Begriff wie „Auto“ oder „Apfel“ – neutral, die Eigenschaft des Wortes ohne soziale Wertung. Doch die Schwere dieses Wortes liegt nicht im Begriff selbst, sondern in dem was die Gesellschaft zu dem es definiert, wie etwas zu sein hat. Es sind die äusseren Erwartungen, Pauschalisierungen, Zuschreibungen. Stigmata und Urteile welche gebildet werden, welche erfüllt werden müssen. Wer nicht hat, wer nicht will, dem wird Druck aufgesetzt bis er macht, wenn er nicht kann - werden viele ausgestossen. Es lebe die Leistungsgesellschaft - fernab von einer echten Wissenswelt.
Es sind die unausgesprochenen Botschaften, die verletzen: Einfach gesagt - so wie du bist - du bist nicht richtig - du musst dich ändern - sonst wirst du ausgestossen.
Du bist nicht schnell genug.
Nicht präzise genug.
Nicht gut genug.
Dich versteht keiner
Du wirst aussortiert
Ich weiss wovon ich spreche. Ich bin Legastheniker. Mein Inhalt was ich schreibe wird nicht gesehen, sondern ich werde reduziert auf meine Schwächen. Bühne frei für meine Defizite. Es frustriert all die Arbeit, Zeit und Energie welche ich investiert habe. Meine Ideen, meine Kreativität, mein vernetztes Denken wird nicht gesehen. Erst wenn das enge Raster des Dudens erfüllt wird, erst dann wird gesehen, was geleistet wurde - denn so entstehen die bunten Lebensläufe der Kreativen - weil sie vielfach einen Umweg gehen müssen um sichtbar zu werden.
So ist die Wissensaneignung nicht die grösste Herausforderung, sondern der Umgang mit den spitzen Bemerkungen, welche unerwartet und aus dem heiteren Himmel erscheinen- völlig unerwartet und unabhängig vom Kontext. Plötzlich wird mir gesagt, wie ich zu sein habe, wie ich mich ausdrücken sollte, um „verständlich“ zu wirken, wie ich die Dinge erreichen kann. Der andere ist die Allmacht der Menschheit – und ich das Nadelkissen für verbale Entgleisungen
Worte können wie Nadeln verletzen
Früher haben mich solche Aussagen gelähmt. Ich war still, habe es geschluckt, mich angepasst.
Heute nicht mehr. Heute setze ich klare Grenzen.
Denn: Nur weil wir alles sagen dürfen, heisst das noch lange nicht, dass alles gesagt werden sollte. Deshalb ist es wichtig die Worte an den Anfängen zu packen bevor sie dich innerlich emotional zerstören - sondern bereits an der Wurzel packen.
Die Würde des Menschen ist unantastbar“
– doch wenn man verbale Entwertung betrachtet, müssten manche wirklich noch einmal die Schulbank drücken. Gemäss Artikel 7 der Schweizer Bundesverfassung gilt die Unantastbarkeit der Menschenwürde auch für Menschen mit Legasthenie. In sozialen Medien werden ihre Schwächen oft sichtbar und können zu Vorurteilen führen. Deshalb ist es besonders wichtig, respektvoll und verständnisvoll zu kommunizieren, um die Menschenwürde zu schützen und Vielfalt zu fördern.
Ich verletze niemanden – doch mache ich manchmal Fehler in meinen Texten. Trotzdem korrigiere ich sie nicht, sondern gehe meinen Weg – unperfekt, echt, und ohne Maske. Auch wenn der Text holprig zu lesen ist – ich zwinge niemanden dazu.
„Du musst nicht das werden, was andere in dir sehen wollen.“ — Judith Butler
Vom Makel zur Möglichkeit
Um zu verstehen, woher das alles kommt, bin ich in meine Vergangenheit eingetaucht. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der Legasthenie als „Störung“ galt – in einer Ära des starren, rigiden Denkens, geprägt vom sogenannten Fixed Mindset.
Lehrpersonen und andere Autoritäten wurden nicht hinterfragt – selbst dann nicht, wenn offensichtlich war, dass ein Kind leidet. Autorität bedeutete Gehorsam, nicht Dialog. So mussten viele Kinder still leiden.
Und so entstanden tiefe, schmerzhafte Glaubenssätze, innere Minderwertigkeiten – die nie hätten sein müssen. Welche Erwachsene bis heute mit sich herumtragen. Wenn man Kinder einfach in ihrem Wesen gestärkt hätte, statt sie an einem fehlerhaften Massstab zu messen, wäre so viel Leid erspart geblieben.
Wir haben nie gelernt, dass wir so, wie wir sind, schon längst genug sind. Stattdessen tragen wir einen ständigen inneren Anpassungs- und Verbesserungsdruck mit uns herum. Dieser bringt uns nicht vorwärts, mit dem entwickeln wir keine neue Dinge, das ist unötiger Ballast welcher wir mit uns herumtragen - welcher uns müde macht und warum - weil wir uns nicht als schwach zeigen können . Dabei gehört das zum Leben. Doch genau das gehört zum Leben: Das Unperfekte. Das Suchende. Das Menschliche.. Denn wer sagt - wann es dir reicht, dass wir genug sind - wir uns selbst. Eine Pflanze wächst nicht schneller, wenn man an ihr zieht. Sie braucht Licht, Raum und Vertrauen. Genau wie wir.
Eine Pflanze wächst nicht schneller, wenn man an ihr zieht
Wachstum geschieht nur dann, wenn wir es selbst wollen
Veränderung, die aus Druck, Angst oder den Erwartungen anderer entsteht, bleibt oberflächlich – oder blockiert uns sogar. Sie ist nicht nachhaltig, sondern eine Reaktion auf äußeren Zwang.
Doch wenn wir wirklich wollen – und beginnen zu verstehen –, dass wir wachsen können, verändert sich etwas Grundlegendes in uns.
Unsere Denkweise wandelt sich: vom Fixed Mindset, das uns begrenzt, hin zum Growth Mindset, das uns öffnet. Plötzlich verändert sich nicht nur unser Inneres – auch unser Blick auf die Welt beginnt sich zu wandeln. Denn wenn wir erkennen, dass wir lernen und uns verändern können, entsteht Vertrauen in die eigene Entwicklung. Der Glaube an unser Wachstum wird zur treibenden Kraft. Unsere alten, starren Denkmuster beginnen aufzubrechen. Was früher als Schwäche galt, wird zum Lernfeld. Was einst wie ein Makel wirkte, zeigt sich als Möglichkeit.
Carol Dwecks Konzept des Mindsets – die Psychologie des Erfolgs – erinnert uns daran:
Wachsen beginnt mit der Entscheidung, dass Entwicklung möglich ist.
So wenn wir dranbleiben an unseren Zielen, was wir erreichen wollen, dann hat der Kritiker, welcher die bequeme Rolle des Zuschauers inne hält, was ich alles falsch gemacht hat. Der kann gut sagen, der hat keinen Schweiss gespürt, keine Verletzlichkeit, keine Zeit investiert, sich nicht bloss gestellt - er sitzt bequem da und urteilt genüsslich - genau da setzt meine
Aschenputtel Strategie an
Weizen ins Töpfchen, Spreu ins Kröpfchen – konstruktiv voran, destruktiv weg
Mein Prinzip ist einfach:
Weizen ins Töpfchen, Spreu ins Kröpfchen – konstruktiv voran, destruktiv weg
🟢 Konstruktive Kritik nehme ich an – sie nährt, stärkt und hilft mir zu wachsen.
🔴 Destruktive Kritik lasse ich fallen. Sie will kontrollieren, entwerten oder entmutigen – und genau dort gehört sie hin: ins Nirvana.
Mit dieser Haltung schütze ich mich bewusst.
Ich lasse mich nicht mehr gefangen nehmen in den negativen Gedanken anderer. Stattdessen nehme ich Abstand – und wende mich dem zu, was mir Freude bereitet: dem Schreiben, dem Denken, dem Forschen. Meinem Weg.
Aber:
Wenigstens habe ich meine Bühne. Meine Übungsfläche.
Ich zeige mich. Ich riskiere Fehler. Ich entwickle mich weiter.
Und das können viele nicht aushalten: Dass ein Legastheniker nicht ihrem Verbesserungswahn verfallen ist sonderns ich mit Schwächen zeigt folgt. Dass jemand anders lebt, denkt, schreibt – und sich damit selbst genügt.
Sie kritisieren, ohne wirklich zu begegnen. Ohne Interesse an Verbindung.
Sie bewerten – und bleiben Zuschauer.
If you're not in the arena getting your ass kicked on occasion, then I'm not interested in your feedback. You don't get to sit in the cheat seat and criticize my appearance or my work with mean-spiritedness if you're also not in the arena.
— Brené Brown
Das heisst: Wenn du keine Risiken eingehst, dich keinen Herausforderungen stellst und dich nicht angreifbar machst – also nicht bereit bist, auch mal Fehler zu machen oder hinzufallen –, dann hat deine Kritik wenig Wert.
Du hast nicht das Recht, bequem von aussen meine Arbeit, mein Auftreten oder mich selbst mit Boshaftigkeit oder negativer Haltung zu bewerten, wenn du selbst nicht mutig genug bist, dich selbst in den Ring zu stellen.
Wir als Gesellschaft müssen einmal nachdenken - welche Chancen wir verbauen, welches Wissen wir verschleudern mit unserem Anpassungsdruck. Sind es nicht die Menschen welche nicht den geraden Lebenlauf haben, welche sich überwinden müssen, welche das gleiche erreichen wollten - einen Umweg hinlegten. Denn jeder will leben, auch die Ausgeschlossenen
Denn irgendwwann wird mein Wissen, mein Selbstwert stärker und die Kritiken schwächer. Doch was ich mir erarbeitet habe - den Mut auf der Bühne zu stehen.
Bühne auf für meinen Mut